aus SZ vom 19.01.2019
Durchs Türl in d’Ewigkeit
Von Sebastian Beck und Hans Kratzer
Es ist so ein Adalbert-Stifter-Abend: Als die Sonne untergeht, leuchten Himmel und Schnee ein paar Augenblicke lang in Rosa und Purpur auf. Der Wind bläst feine Kristalle über den Arber. Zu Eis erstarrt steht der Fichtenwald, kaum merklich neigen sich die Baumsäulen im Wind. Nur ein paar Tourengeher bezeugen das Schauspiel. Sie stehend schweigend, fast ehrfürchtig auf dem Gipfelplateau und blicken über das Schnee- und Wolkenmeer. Bis zum Horizont nichts als Wildnis, keine Straße, kein Auto. Nur ein Rieseln bricht die Stille. „Wahnsinn“, sagt einer, „so schön war das seit Jahren nicht mehr.“
Dann weicht das Farbspektakel einem Graublau, die Kälte beißt in den Fingern. Es wird Nacht, und die Galavorstellung auf dem höchsten Gipfel des Bayerischen Waldes neigt sich dem Ende zu. Skifahrer schwingen talwärts, Schneeschuhgeher trotten nach unten, ganz erfüllt von dem Erlebnis. In Deggendorf nieselt es, der Gäuboden zeigt sich in seiner Tristesse. Ganz hinten aber, an der Grenze zu Böhmen, feiert der Winter sich selbst. Die Schneefälle haben das Alltagsleben für ein paar Tage behindert, sie haben die Landschaft aber auch in eine geradezu mystische Welt verwandelt. Ein Räumfahrzeug hat weiter im Süden eine Straße zum Dreisesselberg hinaufgefräst. Oben auf 1300 Meter zeichnen sich schemenhaft Felsen und das Dreisesselhaus im Schneegestöber ab. Dann verschmelzen Himmel und Erde minutenlang im „Whiteout“, in dem es kein Oben und Unten gibt. Irgendwo bellt der Hund des Hüttenwirts – eine schwarze Silhouette im weißen Nichts.
Wer sich in diesen Tagen in den Bayerwald aufmacht, könnte länger schwelgen in Naturbetrachtungen. Gerade in diesem Jahr ist der Winter ähnlich streng wie in jenem kalten Januar 1985, in dem der damalige BR-Redaktionsleiter Karl Strobl der Autorin Elfi Pertramer und ihrem Kameramann Martin Lippl auftrug, sie sollten doch in den Bayerischen Wald fahren und einen Film über den Arber machen, über jene Bergregion also, in der sich der Bayerische Wald und der Böhmerwald vereinen.
Weil die Pertramerin nicht mitfahren wollte, machte sich Lippl allein auf den Weg. Wegen des Schneesturms nahm er Quartier auf der Arber-Schutzhütte, wo er tagelang ausharrte. Eines Morgens aber öffnete sich vor seinen Augen ein Naturschauspiel, wie er es noch nie gesehen hatte. „Es war eiskalt und stürmisch“, erinnert sich Lippl. Die Bergwelt am Arber war in diesen Minuten wie entfesselt, mal war der Himmel dicht, gleich darauf rissen der Nebel und die Wolken wieder auf, und in diesem Rhythmus ging es einige Zeit weiter. „Ich hab sofort mit der Kamera draufghaltn“, sagt Lippl, „das war eine richtige Hetz‘, eine wilde Jagd.“ Und eine Schwerarbeit noch dazu, die klobige Kamera und die Akkus mussten ja unter diesen widrigen Umständen funktionstüchtig gehalten werden. Die Mühe hat sich aber gelohnt, herausgekommen ist ein Stück Fernsehgeschichte. Lippl schaffte es in dieser halben Stunde, das Naturschauspiel der Arbermandl auf eine Art einzufangen, wie es bis dahin noch niemandem gelungen war.
Arbermandl nennt man die oft bizarr verschneiten Latschen und Bergfichten des Arbers, die sich bei Ostwind und Eisschnee in märchenhafte Gestalten verwandeln. Sie vermitteln den Eindruck, als bewegten sich im Rhythmus des Windes geheimnisvolle, unheimliche Lebewesen, welche die Bergwelt bewachen.
Als Lippl das Filmmaterial der Pertramer zeigte, „war die Elfi wie vom Blitz getroffen“, erinnert sich Lippl. Unverhofft sah sie jene Bilder, von denen sie mit ihrem Hang zur Mystik stets geträumt hatte. „Sie setzte sich auf der Stelle hin und schrieb über Nacht den Text“, sagt Lippl. Elfi Pertramer schildert dabei den Arber als einen geheimnisschweren Zauberberg:
Viel Winde kommen da zamm,
viel Winde kampeln de Bam.
Fälische Hund‘, zahnade Drud‘ belfern di o,
sperrn da an Weg, schrecka di, blecka di . . .
Diese Sätze und die Sprechweise, mit der sie den Kurzfilm „Arbermandl“ untermalt, gehen tief ins Herz. Das Bayerische Fernsehen strahlt den zehnminütigen Streifen alljährlich um Weihnachten herum aus. „Es ist die bayerisch-schaurige Antwort auf Dinner for one“, hieß es kürzlich in einem Radio-Feature über das Leben der Elfi Pertramer.
Dem Zauber dieses Films kann man sich kaum entziehen. Man fühlt sich zurückversetzt in jene Tage, als die Menschen im Bayerischen Wald ihr Leben noch ohne die Segnungen der Moderne fristen mussten. Als sie in rauen Winternächten in der Stube beisammenhockten und sich zur Kurzweil Geschichten und Sagen erzählten, in denen die wilde und raue Natur den Takt vorgab. Bis weit bis ins 19. Jahrhundert hinein war der Bayerische Wald abgeschieden und in weiten Teilen nicht erschlossen. Die Berliner Illustrierte Zeitung titulierte diese Region noch vor hundert Jahren als „das deutsche Sibirien“. Kein Wunder, dass sich gerade hier ein idealer Nährboden für allerlei magische Vorstellungen entwickelt hat.
Unheimlich waren die strengen Waldwinter von Haus aus. Eine ergreifende Beschreibung der Not verdanken wir dem Dichter Adalbert Stifter (1805-1868). Kurz vor seinem Tod schrieb er die beklemmende Erzählung „Aus dem baierischen Wald“, zu der ihn eine Schneekatastrophe im Jahr 1866 inspirierte. Stifter wurde damals in einem Landschlösschen bei Lackenhäuser eingeschneit, was er als so dramatisch empfunden hat, dass man ihm die etwas übertrieben wirkende Einleitung durchaus nachsieht: „Ich habe den vielleicht in 1000 Jahren nicht wieder vorkommenden Schneefall im bairischen Walde unter erschütternden Umständen erlebt.“
Trotzdem zählt Stifters Schilderung der „weißen Finsternis“ des Bayerwaldwinters zu den herausragenden Schneetexten der deutschsprachigen Literatur. Das von ihm beschriebene, alles verschlingende „Gemische von undurchdringlichem Grau und Weiß, von Licht und Dämmerung, von Tag und Nacht“ hat nicht zuletzt Thomas Mann zu seinem berühmten Schneekapitel im Roman „Zauberberg“ angeregt. Womit wir wieder beim Zauberberg der Elfi Pertramer wären, deren Arbermandlmystik die Zeiten ebenfalls überdauern wird:
Siehgst da hinten des Türl?
Durch des Türl geht’s in d’Ewigkeit nauf.
Eng is des Loch, aber wennst di kloa machst, kimmst durche.
Große Leut derna se schwar,
winzi muasst wern, vorm Sterbn!
Arbermandl
An Fuße des Großen Arbers klingelt das Telefon gerade ununterbrochen. „Alle wollen wissen, wie die Lage bei uns ist“, sagt Andreas Stadler von der Talstation und gibt darüber bereitwillig Auskunft. Derzeit herrschten traumhafte Schneebedingungen. Wenn kein starker Wind es verhindere, werde die Gondel an diesem Wochenende wieder fahren. Weil das Personal mit Aufräumarbeiten beschäftigt war, hatte ein Teil der Liftanlagen zuletzt geschlossen.
Um die berühmten Arbermandl zu sehen, nimmt man die Gondel von der Talstation zu den Berghäusern und ist nach einem etwa 20-minütigen Marsch auf dem Gipfel. „Der Weg hoch und der Rundwanderweg um das Gipfelkreuz sind begehbar“, sagt Stadler. Allerdings sollte man von Wanderungen durch die Wälder wegen der Schneebruchgefahr absehen. „Lieber die Winterwanderungen im Tal bei Bodenmais oder Zwiesel machen“, so lautet seine Empfehlung.
Wer wandern möchte und nur das vage Ziel „Bayerischer Wald“ im Kopf hat, steht vor einer etwas komplizierten Informationslage: Sowohl der Nationalpark als auch die jeweiligen Landkreise und Touristeninformationen bieten einen Überblick über Wetter, Wege und Schneehöhen. Viele Wanderwege und Zufahrtsstraßen sind derzeit gesperrt, die Lage kann sich aber ändern. Die Zufahrt zum Parkplatz am Dreisesselhaus ist jedoch frei, die Fußwege oben sind allerdings verschneit und unpassierbar. doka